Das nachfolgende Kapitel "Bilanz" ist dem Buch
"1939 Der Krieg, der viele Väter hatte"
entnommen.
Der große Krieg, der zwischen 1939
und 1945 ausgetragen wird, hat seine mitteleuropäisch-deutsche, seine
mediterran-italienische und seine pazifisch-japanische Dimension. Bei den
letztgenannten beiden sind es die ehemaligen Alliierten aus dem Ersten
Weltkrieg, die sich auseinandersetzen. Bei der mitteleuropäisch-deutschen
Dimension handelt es sich um die Wiederholung oder die Fortsetzung des Ersten
Weltkriegs, den die Deutschen erst in Flandern und auf dem Atlantik und dann in
Versailles verloren hatten. 1919 bringen alle Sieger ihre Kriegsgewinne heim,
die einen deutsche und österreichische Grenzgebiete, die anderen deutsche
Kolonien und die dritten deutsche Industriepatente und Reparationen. Die Sieger
versäumen es dabei, den Schluß des Krieges in den Anfang eines Friedens
umzuwandeln. Sie zementieren einen Zustand, den die besiegten Deutschen und
Österreicher nicht auf Dauer dulden können. In Deutschland scheitern letzten
Endes alle demokratischen Regierungen vor 1933 an den mittelbaren oder unmittelbaren
Folgen der Versailler Lasten und an der Unwilligkeit der Sieger, den Deutschen
einen echten Frieden einzuräumen.
Schon als ab 1927 die deutschen
Reichsregierungen versuchen, die Selbstschutzfähigkeit ihres Landes in Maßen
auf dem Verhandlungswege zu erstreiten, und als sich 1931 die österreichische
und die deutsche Regierung um eine Zollunion bemühen, stören sie das, was in
der Sicht der Sieger „Friede“ ist. Den zwei neuen Republiken Deutschland und
Österreich wird 1919 mit den „Taufsprüchen“ von Versailles und Saint-Germain in
die Wiege gelegt, daß sie auf Dauer halbsouveräne Staaten bleiben oder
Friedensstörer werden müssen. Als die neue deutsche Reichsregierung unter
Hitler anfängt, die Versailler Nachkriegsordnung Stück um Stück hinwegzuräumen,
stört sie demzufolge das, was die Siegermächte für den Frieden halten. Selbst
der moderate Start der Hitler-Regierung, die sechsmal von sich aus Angebote zur
Rüstungsbegrenzung unterbreitet, ändert daran nichts.
Die Status-quo-Veränderungen, die von
deutscher Seite vorgeschlagen werden, sind tendenziell Brüche des Versailler
Friedens. Daneben zeigt sich, daß Hitler jeder mäßigende Schritt als Schwäche
ausgelegt wird. Das erste Beispiel dazu ist sein Vorschlag, die Tumulte vor der
Saarabstimmung durch Verzicht auf einen Urnengang und einen freundschaftlichen
Vertrag mit Frankreich zu beenden, der die augenblicklichen Rechte der Franzosen
im Saarbergbau als Dauerlösung festschreibt. Hitlers Mißerfolge am
Verhandlungstisch im deutlichen Kontrast zu den Erfolgen, die er mit Handstreich
oder Drohung durchsetzt, „erziehen“ den Diktator, sich fortan der letzteren
Methoden zu bedienen.
Die in Versailles konstruierte
Verteidigungsunfähigkeit des Reichs mit einer ungeschützten Rheinlandgrenze
gegenüber Frankreich und mit einem Reichsheer, das den Heeren der Nachbarländer
1:12 an Friedensstärke und etwa 1:100 für den Fall des Krieges unterlegen ist,
ist angesichts der Einmärsche der Polen, Franzosen, Belgier und Litauer in das
Reichsgebiet kein auf die Dauer für die Deutschen hinnehmbarer Zustand. Die
Aufrüstung von 51 Friedensdivisionen plus der etwa gleichen Zahl an
Reservedivisionen und der rasche Aufbau von Luftstreitkräften für die Zeit, in
der das Heer noch nicht voll abwehrfähig ist, erscheint den meisten Bürgern
Deutschlands zu der Zeit, da dies geschieht, als Gebot der Stunde und nicht als
Omen eines von Deutschland ausgelösten neuen Krieges. Doch für die Siegermächte
ist schon die Ankündigung der deutschen Wiederaufrüstung ein Bruch des
„Friedens“ von Versailles und ein Alarmsignal. Erst recht wird der ab 1935
offenkundige Wehrmachtswiederaufbau in Washington, Paris und London so gesehen.
Frankreich und die USA haben es
versäumt, die von Hitler 1933 und 1934 angebotenen Begrenzungen der deutschen
Selbstschutzfähigkeit anzunehmen und vertraglich festzuschreiben und dafür mit
einer Begrenzung der eigenen Rüstung zu bezahlen. Statt dessen haben weder die
Franzosen Teile ihrer Land- und Luftstreitkräfte opfern noch die Amerikaner
ihre enorme Marinerüstung bremsen wollen. Jeder hatte „seine guten Gründe“.
Hitler hat immerhin mit Großbritannien vertraglich eine Unterlegenheit der
deutschen Kriegsmarine 1:3 vereinbart und sich solange vertragsgetreu
verhalten, wie er damit rechnen konnte, daß England nicht erneut als Feindstaat
auftritt.
Während seiner ersten
Herrschaftsjahre erscheint Hitler, was die äußere Sicherheit betrifft, der
eigenen Bevölkerung infolge seiner öffentlichen Reden als ein „Mann des
Friedens“. Er läßt das deutsche Volk bis zum September 1938 nicht erkennen, daß
er bereit ist, die Wehrmacht statt zum Schutz des Reiches auch zur Durchsetzung
seiner Ziele einzusetzen. Im Bewußtsein der Bürger und Soldaten dient der
Wehrmachtswiederaufbau alleine der Verteidigung des eigenen Landes.
1933 ist die Geschichte - so wie
ich glaube - noch ergebnisoffen. Die Entwicklung, wie sie 1939 in den Zweiten
Weltkrieg mündet, bestätigt am Ende die Befürchtungen der Siegermächte, die den
Deutschen allgemein seit 1919 und Hitler im besonderen seit 1933 unterstellen,
auf einen neuen Krieg und auf die Weltherrschaft hingewirkt zu haben. Doch in
ihrer Furcht vor Hitler und den Deutschen haben die Siegerstaaten die Szenarien
selbst geschaffen, in denen Hitler später zur Gewalt greift, statt die Probleme
mit Geduld und langem Atem anzugehen. Auch die Lektion, daß ihm Geduld und
langer Atem allein nicht weiterhelfen, lernt Hitler von den Siegermächten.
Das Verbot der Reichsverteidigung
im Versailler Vertrag, die zugestandene Minimalarmee, die ungeschützte
Rheinland-Grenze, die Angriffe der Polen, Franzosen, Litauer und Belgier auf
das Reichsgebiet, die Abtrennung deutscher Landesteile entgegen dem Votum der
betroffenen Bevölkerung, die Wegnahme der deutschen Kolonien und
Auslandsbesitzungen an Geld, Bergbau- und Erdölkonzessionen, die Umkreisung Deutschlands
mit einem Netz von Militärverträgen und nicht zuletzt das französische Gerede
vom „Flugzeugträger Tschechoslowakei“ im Rücken Deutschlands sind die
Tagesordnungspunkte, die Hitler für die nächsten Jahre für sein Arbeitspensum
hält.
Der Diktator hat mit der Besetzung
der Tschechei und dem ihr aufgezwungenen Protektorat moralisch, menschlich und
völkerrechtlich ein Verbrechen an den Tschechen begangen. Die Siegerstaaten,
die dies allesamt verurteilen, greifen hier nicht ein, obwohl sie das Recht und
die Möglichkeiten dazu hatten. Nach ihrem Nichtstun herrscht wieder
Friedenspflicht. Wenn dies nicht so gewesen wäre, hätten auch andere Staaten
das Recht gehabt, jederzeit neue Kriege gegen England oder Frankreich zu
entfesseln, um dritte Staaten von den ihnen aufgezwungenen Protektoraten zu
befreien oder Kriege anzufangen, um alte Rechnungen zu begleichen. Gleiches
Recht für alle.
Trotz dieser Friedenspflicht
entzündet sich an Danzig, den exterritorialen Verbindungen nach Ostpreußen und
der Behandlung der deutschen Minderheit in Polen sechs Monate danach der Zweite
Weltkrieg. Die gegen ihren Willen vom Mutterland getrennte Bevölkerung der
Hansestadt Danzig will an Deutschland angeschlossen werden. Die Menschen in
Ostpreußen wollen Verkehrswege für den Handel und die Reisen von ihrem eigenen
Landesteil in das Hauptgebiet des eigenen Staates zur Verfügung haben, auf
denen sie von polnischen Schikanen in Zukunft unabhängig sind. Und die in
Westpreußen, Posen und Ost-Oberschlesien verbliebenen Deutschen wollen frei von
Drangsal, Diskriminierung und Verfolgung leben. Die Polen ihrerseits wollen keinen Meter "uralten"
polnischen Gebietes und keines ihrer Rechte opfern, und sie erwarten Loyalität
von ihren Bürgern deutscher Muttersprache. Das ist der Streitwert, um den es
sich im Frühjahr 1939 handelt.
Hitler ist der subjektiven Ansicht,
daß er den Polen bereits sehr weit entgegengegangen ist, als er 1934 die
Polenpolitik seiner 16 Vorgängerregierungen verworfen und seither keine
Ansprüche mehr auf die Rückgabe von Westpreußen, Posen und Ost-Oberschlesien
gestellt hat. Seit dem Dezember 1938 und seinem Teschen-Einverständnis glaubt
er außerdem, die deutsch-polnischen Probleme auf der Basis einer
Gebietsanerkennung für Westpreußen - Posen - Ost-Oberschlesien gegen Danzig und
die exterritorialen Verkehrswege erledigen zu können. Ab dem 24. Dezember 1938
heißt sein Angebot „Anerkennung gegen Danzig plus einen Friedensvertrag für 25
Jahre“. Am 5. Januar 1939 bringt Hitler sein Angebot auf eine neue Kurzform:
„Danzig kommt zur deutschen Gemeinschaft und bleibt wirtschaftlich bei Polen“.
Zu dieser Zeit, am 26. Januar 1939,
und damit noch bevor Hitler seinen Sündenfall mit der Tschechei begeht und
einen Kriegsgrund liefert, schüren der französische Außenminister Bonnet und
der Ministerpräsident Daladier in der Pariser Nationalversammlung mit ihren
Reden die Glut, auf der sich bald der Krieg entzündet:
" Im Falle eines
Krieges werden ... alle Kräfte Großbritanniens Frankreich zur Verfügung stehen
und genauso alle Kräfte Frankreichs Großbritannien.“
Und an die Adresse Polens
gerichtet:„...., daß es gelte, den Forderungen gewisser Nachbarn ein kategorisches
Nein entgegenzusetzen.“
Daladier und Bonnet wollen keine
Danzig-Lösung und keine Aussöhnung zwischen den Deutschen und den Polen. Beide
wollen offensichtlich wieder Krieg mit Deutschland.
Hitler will genauso offensichtlich
Danzig und - wenn das geht - keinen Krieg dafür mit Polen; Krieg nur, wenn
Polen keine anderen Wege offenläßt. So ist die erste „Führerweisung“ vom 24.
November 1938 in Bezug auf Danzig zu verstehen, in der Hitler die
handstreichartige Besetzung der Stadt aus dem benachbarten Ostpreußen heraus
vorbereiten läßt. Der Weg aus Ostpreußen vermeidet, daß deutsche Truppen
polnisches Territorium betreten müssen, und daß es um des Anschlusses willen zu
einem Krieg mit Polen kommen muß.
Mit dem deutschen Einmarsch in der
Rest-Tschechei hat Deutschland in den Augen der Briten, Franzosen, Amerikaner
und Sowjets einen Grund zum Krieg geliefert. Da sie den Kriegsgrund alle nicht
dazu benutzen, zur Rettung der Tschechen militärisch einzugreifen, bindet sie
danach erneut die Friedenspflicht. Statt dessen pflanzen die Regierungen der USA,
Großbritanniens und Frankreichs eine neue Schwierigkeit für Deutschland auf das
von ihnen in Versailles gesäte Feld der deutsch-polnischen Differenzen. Sie
animieren die dafür empfänglichen Polen, sich auf keine deutschen Wünsche
einzulassen, und verhindern damit die Lösung von Problemen, die sie 20 Jahre
vorher selbst geschaffen haben. Das muß in der inzwischen angeheizten Spannung
zwischen Polen und dem Deutschen Reich so gut wie automatisch einen neuen Krieg
entfachen.
Roosevelt verspricht Chamberlain
und Daladier Hilfe gegen Deutschland und bestärkt sie, sich nicht vor einem weiteren
Krieg zu scheuen. Chamberlain nimmt den Polen mit seinem Beistandsangebot den
letzten Anreiz, auf die deutschen Wünsche einzugehen. Zum Schluß verspielt er
mit seiner vorgetäuschten Vermittlungstätigkeit die letzten Zeitreserven
Hitlers. Daladier und Gamelin locken die Polen mit dem Versprechen eines
französischen Großangriffs gegen Deutschlands Westfront auf einen „Siegespfad“,
der im Desaster für die Polen endet. Stalin schürt die Kriegsbereitschaft aller
Seiten. Und Roosevelt, als er von den sowjetischen „Interessen“ an Ostpolen hört,
läßt die Polen ungewarnt, damit sie nicht am Ende doch noch Danzig opfern und
dadurch einen Krieg verhindern. Polen ist für alle nicht ein Schützling,
sondern nur das Mittel, das mit Sicherheit den nächsten Krieg ermöglicht. Aber
Polen ist dabei nicht nur das Opfer. Die Qualen, die die Polen „ihren“
Deutschen, Weißrussen und Ukrainern antun, wiegen im Sommer 1939 schwerer als
das Danzig-Korridor-Problem.
Resümierend kann man sagen, daß die hier genannten Akteure - jeder auf seine ganz
eigene Weise - den Zweiten Weltkrieg mit angezettelt haben. Mitschuldig an diesem
neuen Krieg sind die
Regierungen und Staaten, die in Versailles und Saint-Germain die Gründe für den
nächsten Krieg geschaffen und später bei Gefahr bewußt verhindert haben, daß die
Gründe beseitigt werden konnten.
Soweit zu dem, was Asher ben Nathan
gemeint hat, als er sagte:
„Entscheidend
ist, was den ersten Schüssen vorausgegangen ist.“
Hitler löst am frühen Morgen des 1.
Septembers 1939 die Schüsse der deutschen Wehrmacht gegen die polnische Armee
aus und reißt die Welt damit in einen Strudel, der bis heute nachwirkt.
Dieser Buchauszug darf zu gewerbsmäßiger Verwendung nur mit Genehmigung des OLZOG-Verlags
abgedruckt oder kopiert werden.