Das Vorwort ist dem Buch
"1939 Der Krieg, der viele Väter hatte"
entnommen.
Zu Beginn möchte ich fünf Dinge erwähnen. Das sind die Idee, die Quellen, der
Anspruch und die Gliederung des Buchs und die Einordnung seines Inhalts in
das Zeitgeschehen.
Zuerst die Buchidee. Vor ein paar Jahren beschäftigte mich die Frage, welcher
Teufel meine Vätergeneration geritten haben mag, als sie nach der Katastrophe
des Ersten Weltkriegs einen neuen Krieg vorbereitet und begonnen hat. Ich
dachte dabei anfangs nur an die deutschen Väter. Die Ergebnisse der Nürnberger
Prozesse ließen das ja auch zunächst vermuten. Auf der Spurensuche stieß ich
allerdings auf vieles, das mir so bis dato nicht bekannt gewesen war. Das war
vor allem der Kontext des damaligen Weltgeschehens. Die übliche deutsche Geschichtssehreibung, vom gängigen Schulgeschichtsbuch bis zu den Standardwerken
des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, blendet diesen Kontext - aus
welchem Grund auch immer - fast zur Gänze aus. Die Geschichte wird dort mit
einem "Tunnelblick" betrachtet. So las ich auf der Spurensuche erstmals in ausländischer Literatur, in welchem Umfeld es zum Zweiten Weltkrieg kam. Die
Vorgeschichte dieses Krieges gleicht einem Kriminalroman; zu meiner Überraschung einem mit einer ganzen Tätergruppe. So hat sich meine Buchidee verschoben. Statt dem einen Täter auf der Spur zu sein, folgte ich am Ende meiner
Arbeit vielen Spuren und mehr Tätern, als ich anfangs glaubte.
Meine zweite Vorbemerkung gilt der Literatur- und Quellenlage. Ich habe in
diesem Buch fast nichts verwertet, das nicht schon irgendwo beschrieben worden
wäre. Alle Quellen sind jedermann in öffentlichen Bibliotheken und Archiven
oder über das Internet zugänglich, und trotzdem ist vieles nicht bekannt. Je
nach Auswahl von Literatur und Quellen entstehen allerdings recht unterschiedliche Bilder der Geschichte. Die in Deutschland verbreitetste Geschichtsschreibung konzentriert sich auf die deutsche Vergangenheit und wählt danach die
Quellen aus. Doch diese Konzentration verengt den Blick zu der bereits erwähnten Tunnelperspektive, und sie läuft Gefahr, die internationalen Gebräuche und
Strömungen der beschriebenen Epochen auszublenden. Sie zerstört die Zusammenhänge, in denen die Vergangenheit der Deutschen stattgefunden hat. Das gilt in
besonderem Maße für die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs. Man kann eben
keine Reportage über ein Autorennen machen, indem man nur die Wagen von Ferrari schildert. Zum Rennen wird das Ganze erst durch alle Wagen auf der Piste.
Ausländische Literatur ist dennoch kein Quell der absoluten Wahrheit. Engländer, Franzosen, Amerikaner und Sowjets neigen, wie andere Nationen, zur
Selbstdarstellung und zur Rechtfertigung des eigenen Handelns. Trotzdem waren
sie für mich bei meiner Arbeit gute Fährtenleger. Das Problem, vor dem ich bei
der Spurensuche stand, war, daß die meisten Quellen eine Absicht transportieren. Da sind die Zeitzeugen, deren Berichte vor 1939 anderes melden als ihre
Memoiren nach 1945. Da sind die offiziellen Dokumentenbände, die "heiße Ware"
unterschlagen, zum Beispiel die "Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik"
(ADAP), die ich zunächst für authentisch hielt, weil sie in den 50er Jahren
als die amtliche Dokumentation des Auswärtigen Amts in Bonn veröffentlicht
worden sind. Erst später fiel mir auf, daß diese Nachkriegsausgabe der Akten
des deutschen Auswärtigen Amts von amerikanischen, englischen und französischen Wissenschaftlern und Archivaren herausgegeben worden ist. Es darf nicht
wundern, daß die Akten dabei zu Gunsten der Sieger ausgewählt und auch "gewaschen" worden sind. So fehlt in diesem Nachdruck zum Beispiel die erste offizielle Drohung, wegen Danzig Krieg zu führen. Sie wurde im März 1939 vom polnischen Botschafter in Berlin ausgesprochen, noch ehe Hitler der Wehrmachtsführung den Befehl gab, einen Krieg gegen Polen vorzubereiten. Es gibt jedoch
die Veröffentlichung der selben Dokumente aus dem Jahre 1939 (AA 1939), die
diese Drohung noch enthält'. Aber auch diese Vorkriegs-Dokumentensammlung ist
nicht ohne Haken. Sie läßt, genauso wie das "British War Bluebook" und die
vergleichbaren Dokumentationen anderer Nationen, viele Briefe und Protokolle
unerwähnt, wenn sie die entsprechenden Regierungen belasten. So fand ich in
den Memoiren und Dokumenten Auslassungen, überarbeitungen, Fälschungen und
pro-domo-Interpretationen.
An der deutschen Literatur war für mich verwirrend, daß die erste Geschichtsschreibung nach dem Kriege unter gesetzlichen Auflagen erarbeitet worden ist,
die der Forschung Grenzen auferlegten. Im Überleitungsvertrag von 1954, Artikel 7 (1) ist verbindlich festgelegt gewesen, daß "deutsche Gerichte und Behörden ... alle Urteile und Entscheidungen" aus den Nürnberger Prozessen "in jeder Hinsicht als rechtskräftig und rechtswirksam ... zu behandeln haben." Zu
den Entscheidungen des Gerichts gehörten die "Feststellungen" zum Ablauf der
Ereignisse, die zum Kriege führten. Sie stehen in den Urteilsbegründungen. Die
Urteile konnten nach Maßgabe des Gerichts auch ohne Beweiserhebung oder gegen
die Beweisführung der Verteidigung zustande kommen.' Dadurch waren der subjektiven Sicht der Siegermächte Tür und Tor geöffnet und die besiegten Deutschen
per Gerichtsbeschluß verpflichtet, diese Sicht zu übernehmen. Zu den Behörden,
die diese so zustande gekommenen "Feststellungen" in jeder Hinsicht als
rechtswirksam zu behandeln haben, gehören die Kultusministerien der Länder,
die die Aufsicht über den Inhalt der Geschichtsbücher an den Schulen führen.
Die forschenden Beamten sind per Diensteid an diesen Artikel 7 des Überleitungsvertrags
gebunden und damit an eine Lesart von "Geschichte" , die in Nürnberg verbindlich festgeschrieben worden ist.
Nun könnte man sagen, daß der Überleitungsvertrag und das Jahr 1954 selber
schon Geschichte sind. Doch 1990 wurde die Bindekraft der Urteile des Nürnberger Prozesses per Vertrag ein weiteres Mal verlängert. 1990 wurde der Überleitungsvertrag durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag abgelöst, und die Siegermächte
bestanden dabei darauf, daß der besagte Artikel 7 (1) des Vertrags von 1954
weiterhin Bestand hat. In der "Vereinbarung vom 27./28. September 1990 zum
Deutschlandvertrag und zum Überleitungsvertrag", die den Zwei-plus-Vier-Vertrag begleitet, wurde das noch einmal von deutscher Seite schriftlich Zugesichert.' So weiß man als Leser heute nicht, wo Historiker und Autoren aus der
frühen Bundesrepublik gesetzestreu die Siegerlesart der Geschichte zu Papier
gebracht und nachfolgenden Historikern und Autoren als irreführendes Erbe hinterlassen haben.
Angesichts einer so facettenreichen Literatur- und Quellenlage sollte es den
Leser dieses Buches nicht erstaunen, daß das Bild der Zeit zwischen den beiden
großen Kriegen, das sich mir erschlossen hat, zum Teil von dem abweicht, was
sonst in Deutschland Allgemeingut ist.
Nun zur dritten Vorbemerkung. Ich erhebe nicht den Anspruch, die Tausende von
Büchern gelesen und verarbeitet zu haben, die zum Thema meines Buchs bereits
geschrieben worden sind und die neuesten wissenschaftlichen Publikationen dazu
zu kennen. Mein Anliegen ist es, die Geschichte, die zum Zweiten Weltkrieg
führt, in begreifbare Zusammenhänge zu stellen und sie gut lesbar zu erzählen.
Ich hoffe, daß dies besonders jüngeren Lesern bei ihrer Suche nach einem
eigenen Urteil zur Geschichte hilft.
Als vierte Vorbemerkung möchte ich etwas zur Gliederung des Buches sagen. Bei
dem Bemühen, Zusammenhänge aufzuzeigen, habe ich vieles nicht nach seinen Zeitabläufen sondern nach den Querbezügen dargestellt, z.B. nacheinander den Umgang der Polen mit den Russen, mit den Briten, mit den Deutschen usw. Da viele
der verschiedenen Querbezüge und Zusammenhänge in den selben Zeitabschnitten
stattgefunden haben und die selben geschichtlichen Ereignisse berühren, sind
zahlreiche Wiederholungen im Text nicht zu vermeiden. Das mag den einen Leser
stören, dem anderen ist es vielleicht eine willkommene Gedächtnisstütze bei
der großen Zahl beschriebener Ereignisse.
Die letzte Vorbemerkung gilt der Einordnung des Themas in das Zeitgeschehen.
Unser deutsches Geschichtsbewußtsein, soweit es die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft betrifft, ist von der grauenhaften Seite des damaligen
Regimes geprägt. Wir können kaum über diese Zeit berichten, ohne an den Untergang der Rechtsstaatlichkeit im Lande und ohne an die grausame Ermordung von
Juden und anderen Minderheiten zu denken. Die Erinnerung an die Verbrechen im
Auftrag der damals eigenen Regierung legen sich wie ein düsterer Schatten auf
die betrachtete Epoche. Der Nationalsozialismus als Leitidee des damaligen Regimes
und der Untergang des Parlamentarismus nach 1933 haben sicherlich Voraussetzungen geschaffen, die es Hitler erleichtert haben, 1939 einen Krieg gegen
Polen zu eröffnen. Doch beides hat den Zweiten Weltkrieg nicht verursacht. Von
den Verbrechen der deutschen Reichsregierung an den Juden in Deutschland ist
Ähnliches zu sagen. Sie haben zwar das Engagement Amerikas gegen das nationalsozialistische Deutschland gestärkt, aber sie haben den Zweiten Weltkrieg
nicht verursacht. So sind Unrechtsstaat und Mord an Minderheiten nicht Ursache
und Anlaß für den Krieg gewesen. Sie sind deshalb auch nicht der Untersuchungsgegenstand des Buchs und nicht sein Thema. Ich will vielmehr versuchen zu
beschreiben, was 1939 zum zweiten Streit der Völker innerhalb von 25 Jahren
führte.
Bei streitenden Parteien liegt es nahe, sie alle miteinander zu betrachten.
Vieles in unserer deutschen Geschichte zwischen 1919 und 1939 ist ohne Kenntnis des zeitgleichen Geschehens in anderen Ländern nicht zu verstehen, zu eng
greifen oft Wirkung und Wechselwirkung ineinander. Doch es ist nicht allein
die zeitgleiche Geschichte unserer Nachbarvölker, die den Kriegsbeginn beeinflußt hat, es ist auch - und das nicht unerheblich - die gemeinsame Vorgeschichte der streitenden Parteien. Der israelische Botschafter in Bonn Asher
ben Nathan hat einmal in einem Interview in der Fernsehsendung DIE WOCHE IN
BONN auf die Frage, wer 1967 den 6-Tage-Krieg begonnen und die ersten Schüsse
abgegeben habe, geantwortet: "Das ist gänzlich belanglos. Entscheidend ist,
was den ersten Schüssen vorausgegangen ist." So hat fast jede Geschichte ihre
Vorgeschichte. Der Kriegsbeginn von 1939 ist ohne die Person des Diktators
Hitler nicht zu begreifen. Hitler und die Bereitschaft der Deutschen, ihm in
den Krieg zu folgen, sind ohne den Vertrag von Versailles unverständlich. Die
allgemeine Empörung des deutschen Volkes über Versailles ist ohne die Vorgeschichte
des Ersten Weltkriegs nicht zu verstehen. Und auch diese Vorgeschichte
kann man nur begreifen, wenn man das Konkurrenzgebaren der großen Staaten
im Europa des 19. Jahrhunderts kennt. Das Buch wird deshalb einen langen Anlauf nehmen müssen.
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